Die drei heiligen Räume

DER  INNERE  RAUM

Der dritte der drei heiligen Räume ist der wichtigste. Ohne ihn nützen die zwei anderen Räume nicht viel. So wie ein Stuhl mindestens drei Beine braucht, wenn er stehen soll, ist es notwendig, dass du dir einen dritten Raum schaffst. Unabhängig von Ort und Zeit ist er überall und jederzeit bei dir. Das heisst, er sollte, denn meist ist er es nicht. Du musst ihn zuerst entdecken und öffnen – deinen inneren Raum. 

Es gibt ein Dreieck, ich nenne es das “Trigon der Ruhe”. Wenn du die ersten zwei Punkte – den äusseren Raum und den Zeitraum – erschaffen hast, steht dir die grösste Aufgabe bevor: den dritten Punkt zu erobern. Erst dann wird das Ganze zum Dreieck, und Ruhe kehrt ein.

Unsere pausenlos ratternde Denkmaschine ist es, die diese Ruhe stört. Der Verstand, der sich vom nützlichen Diener zum tyrannischen Herrscher aufgeschwungen hat, liebt Probleme. Deshalb schafft er ständig welche und macht viel Lärm und Betriebsamkeit. Damit versperrt er den Zugang zum inneren Raum – wie der Drache im Märchen den Eingang zur Schatzkammer. Meditation ist der Zauber, mit dem sich der fette Drachen in eine freundliche Fee verwandeln lässt. Von ihr bekommst du den Schlüssel, um das Tor zur Schatzkammer zu öffnen.

“Es führen viele Wege nach Rom”, heisst es. So gibt es auch viele Arten zu meditieren. Es muss nicht immer im Lotussitz sein! Wie jede Tätigkeit, die du mit Hingabe ausübst, kann auch das Zeichnen zur Meditation werden.

Selber meditiere ich täglich – oder nächtlich – im stillen Kämmerlein. Doch dort darf die Meditation nicht bleiben. Meines Erachtens hat sie erst dann einen Wert, wenn sie im praktischen Leben ihre Wirkung entfaltet. Zu diesem Zweck habe ich mir ein Spielfeld geschaffen: Das Zeichnen. Und ganz besonders die Live-Karikaturen. Das heisst, treffend und schnell zu karikieren, nicht in der geschützten Werkstatt des Ateliers, sondern mitten unter den Menschen: Im Trubel einer Publikumsmesse, im lärmigen Bierzelt, auf der Bühne vor Publikum, auf einem schwankenden Schiff oder im exklusiven 5-Sterne-Hotel. Über dreissigtausend Karikaturen habe ich auf diese Weise gezeichnet.

Das sei hier nicht erwähnt, um mich selbst zu beweihräuchern. Ich möchte damit nur sagen, dass ich diese anspruchsvolle Form des Zeichnens – in allen möglichen Umgebungen und zu jeder Tageszeit – ohne das “Trigon der Ruhe” nicht geschafft hätte. Und vor allem nicht ohne den dritten Punkt, den inneren Raum, den ich mir nach und nach erschlossen habe.

Natürlich brauchst du dein tägliches Brot nicht mit Zeichnen oder gar mit Live-Karikaturen zu verdienen. Du machst es zu deiner Freude, und das ist gut so. Dennoch kannst du die Qualität deiner Zeichnungen – und damit auch die Freude – erheblich steigern, wenn du fürs Zeichnen nicht nur Ort und Zeit, sondern auch deinen inneren Raum findest.

Und du wirst merken, dass sein Segen weit über das Zeichenbrett hinauswirkt: Jede Tätigkeit – so gering sie erscheinen mag – wird veredelt, wenn sie aus diesem heiligen Raum heraus geschieht.

Matto